Hildis Blog. Eine kleine Retrospektive der letzten 30 Jahre

Die frühen Blogeinträge bis 2025 stammen aus dem Tagebuch meines Vaters. Er hat damals tatsächlich die für ihn wichtigen Nachrichten und die dazugehörigen URL-Adressen auf Papier in sein Tagebuch geschrieben, weil er ahnte, dass die digitale Blase eh bald platzen würde. In Kapitel 1 des Players kannst Du meinen Blog in abgewandelter Form auch als Audioblog inkl. ein paar Nachrichten anhören!
Wie die Geschichte nach dem letzten Blogeintrag am 06.08.2014 weitergeht, kannst Du in den Kapiteln 2-6 im Player hören!

Viel Spaß!
Deine Hildi

06.08.2034

Gregor und ich sind von unserem Kurzurlaub in McPomm wiedergekommen. Jochen aus der zweiten Etage hat die Post während unserer Abwesenheit angenommen. Er hat uns auch schon vorgewarnt und gesagt, dass der Moser wohl da war und der Sender bald abgeschaltet wird. Aber nun haben wir es schwarz auf weiß: Die Kündigung des Zwischennutzungsvertrags über unsere Sendelizenz für die Frequenz 84,3. Coconut Radio ist also tot! Ich kann es immer noch nicht fassen. Zu allem übel hat mir Gregor gerade verklickert, dass er ganz bald für Investorradio arbeiten wird. Gerade DER! Ich bin fast ohnmächtig geworden, habe mich aber sehr zusammengerissen und bin mit der Antenne aus der Stadt gerannt. Hoffentlich treffe ich Kobe bald, ich will nur noch weg. Er hat mir übrigens Ätherpralinen aus Belgien geschickt, siehe Foto unten! Die Füllung schmeckt aber ein wenig nach Dosenmilch, das muss aber wohl so sein, schreibt Kobe.
Ein letzter Tipp an alle: „Wenn die To-Do-Liste länger wird als du selbst und Deine Beine anfangen einzuknicken, dann hör' einfach ein bisschen Musik, am besten entspannten belgischen Elektropunk aus den frühen 1980ern.




29.07.2034

Gregor und ich fahren morgen früh mit Ludwig und Margrit nach McPomm in so'n Häuschen. Margrit mich bei Coconut Radio ersetzt, wenn ich für Prüfungen lernen musste. Wir nehmen auch einen alten Schallplattenspieler mit; Margrit hat eine Superplattensammlung ihrer Eltern, und wir wollen uns Platten anhören und schauen, wie wir die ins Programm einbauen können. Es ist gerade extrem heiß. Hoffentlich schmilzt das Vinyl nicht.

20.11.2033

Ich habe mich in den letzten Monaten intensiv mit Analogfunk beschäftigt, weil wir ja nun unter einem Zwischennutzungsvertrag (!!!) mit Investorradio stehen. Es ist einfach zu teuer, die Lizenz tatsächlich zu kaufen. Selbst die Pachtgebühren stiegen in den letzten Jahren!! Ich fühle mich ein wenig wie mein Vater vor 20 Jahren, da starb ja peu à peu das Internet. Nun scheinen auch die digitalen Medien bergab zu gehen. Schlimm! Hm, na, lange Rede kurzer Sinn, ich habe in so einer Kontaktliste eines alten Handbuchs über Analogfunk die Adresse eines Freien Belgischen Radiosenders Lobster Radio (Hummerradio!) gefunden, dem ich mal geschrieben habe. Das ist ein Radiosender, der von Hummerjägern an der Küste von La Panne geführt wird. Die senden von einem Schiff aus! Der Sendungsleiter ist der Amateurfunker und Hummerjäger Kobe Chantraine. Hm, ich finde das alles ja extrem romantisch, aber vielleicht sollte man über Liebe genauso wenig schreiben wie über den Tod, oder hm.. vielleicht deshalb besonders viel. Ach, heutzutage wird ja wieder alles tabuisiert. Na, ich kann ja nur ein wenig französisch und lasse die Briefe immer von meinem LinguaScanner übersetzen, der mir das dann auf Deutsch vorliest. Hm. Also, obwohl das eine Computerstimme ist, klingen die Briefe immer extremely romantic. Er sagt von sich, er sei eher unpolitisch, aber ich finde das, für was er kämpft schon ziemlich sinnvoll und sein Lobster Radio in diesen Zeiten ziemlich innovativ! Er hat noch Ideen! Ganz im Gegenteil dazu assoziiere ich Gregor gerade mit eingeschlafenen Füßen, hoffentlich ändert er mal sein Musikprogramm ein wenig. Ich langweile mich immer ein wenig, wenn er sendet.. Hm, ich traue mich aber auch nicht, ihm das zu sagen. Hm, ich setz’ mich mal an einen Brief für Kobe. Hoffentlich treffe ich den bald. Ich darf nicht zu persönlich schreiben. Er lässt sich die Briefe immer von einem Hummerjägerkollegen übersetzen, und mir ist das ganze doch recht unangenehm.

02.05.2032

Heute erhielten wir die Ankündigung darüber, dass unsere Frequenz 84,3 von Investorradio aufgekauft wird. Der Herr Moser von Investorradio meinte, dass wir die Option auf „Zwischennutzungsvertrag“ hätten. Wir könnten den Sender durch unser Programm „warm halten“, bis die die Frequenz programmatisch festgelegt ist. „Warm halten“ das hat der echt geschrieben! Ach, Gregor und ich sind nichts anderes als unvermögende, kreative Hausbesetzer. Wir hoffen, dass wir den Vertrag irgendwann in einen normalen umwandeln können, oder die Lizenz wieder zurückpachten können, das wäre super, aber gerade verdienen wir nicht wirklich viel.. Hier ist noch ein Plakat von Investorradio, das ich diese Woche in unserer Straße gesehen und abfotografiert habe...


16.05.2030

Mein Vater ist gestorben. Ich möchte darüber nicht viel schreiben, es lässt sich nicht gut darüber schreiben. Neben seinen guten Ideen überlässt er mir seine Plattensammlung und auch die Radiofrequenz 84,3. Er meinte zu mir, er würde sich sehr freuen, wenn ich Coconut Radio weitermache, aber ich könne ihn auch umbenennen. Natürlich mache ich unter Coconut Radio weiter!! Ich habe meinen Mitbewohner Gregor gefragt, ob er mitmachen möchte. Und der war begeistert und hat zugesagt. Ich bin ziemlich gut mit ihm befreundet, das wird sicher lustig und tröstet mich ein wenig über die letzten traurigen Monate hinweg... Gregor und ich wohnen in einer kleinen Dachgeschosswohnung über dem Eisbeineck in Friedrichshain. Gregor meinte, er würde mir mit dem Antennenbau helfen. Die meines Vaters haben wir in der Wohnung meiner Eltern abgebaut, die Senderantenne von meinem Vater hat ein Marder etwas angenagt. Wir werden uns wohl hinsetzen und eine neue bauen. Davor haben wir ein wenig Panik. Kupferdraht soll das Salz in der Suppe beim Antennenbau sein! Ich werde mich nun mal durch die Plattensammlung von meinem Vater hören und mal aussortieren; da sind so einige Schätze dabei. Vielleicht essen wir zur Feier des Tages mal unten im Eisbeineck ein Eisbein, das haben wir noch nie gemacht. Die letzten Monate waren so traurig.

2025

Mein Vater hat immer mal wieder kleinere Konflikte mit seinen beiden Kumpelz, mit denen er Coconut Radio sendet. In den Streitigkeiten geht es immer wieder um das Programm und Differenzen im Musikgeschmack. Beinahe wollen alle aufgeben, doch den Tagebuchaufzeichnungen meines Vaters zufolge geht er oft ästhetische Kompromisse mit seinen Freunden ein, um weiterzumachen. Sie einigen sich schließlich darauf, die Sendezeit einzuteilen, so dass jeder seine eigene Sendezeit auf Coconut Radio´ hat, in der jeder das bringen kann, was er möchte. Meine Mutter hat auch Gastauftritte mit eigenen Sendungen! Das ist an den Tagen, an denen mein Vater ins Krankenhaus muss… Die Sendungen mit meiner Mutter sind eigentlich die besten; die hätten mal mehr Frauen senden lassen sollen!!!

2019

In diesem Jahr sollte eigentlich ein weltweit zugängliches Netz „Made in Russia“ eingeführt werden, welches nur von Bürgern der Russischen Föderation mit Inhalten gefüllt werden kann. Das wird jetzt auf 2020 verschoben, aber Putin bleibt dran…
http://www.pcwelt.de/news/Russland_will_eigenes_Internet_namens_Tscheburaschka_bauen-Made_in_Russia-8784262.html
http://www.tagesspiegel.de/medien/digitaler-vorhang-russland-will-ein-eigenes-internet-auf-bauen/10105600.html

21.02.2016

Investorradio beginnt damit, Radiofrequenzen aufzukaufen und sendet in Form eines Monopolsenders

05.08.2014

Mein Vater pachtet zusammen mit zwei Freunden die Sendelizenz für die Frequenz 84,3. Damit gründen die drei den Radiosender Coconut Radio. Der Sendername entstand als Reation auf die Tropical Radio Company, die nach Ende des ersten Weltkriegs die hegemoniale Macht über die abgelegenen Küstenregionen Zentralamerikas übernommen hatte. „Die Kritik an postkolonialen Rundfunkökonomien hat auch 2014 ihre Daseinsberechtigung“, schreibt mein Vater in seinem Tagebuch.
http://www.fofweb.com/History/MainPrintPage.asp?iPin=EWAR0654&DataType=AmericanHistory&WinType=Free

21.06.2014

Langsam wird mein Vater wütend. Er hat sich heute mit seinen beiden Freunden Olaf und Harald getroffen, und nun tüfteln die an Ideen, eine analoge Radiofrequenz zu pachten. Meine Mutter rollt den Tagebuchaufzeichnungen meines Vaters nach zu urteilen, die ganze Zeit mit den Augen. „Twitter findet sie [meine Mutter] eh doof, ich mag sie sehr“, schreibt mein Vater an diesem Tag in sein Tagebuch.


20.06.2014

Drama, oh Drama: Mein Vater kann seine Lieblingsmusiksendung im TV nicht mehr sehen!
http://www.tagesspiegel.de/medien/fernsehempfang-kabel-deutschland-wirft-weiter-dritte-programme-aus-analogen-netzen/10070864.html

21.03.2014

Erdogan lässt Twitter und kurze Zeit später Youtube abschalten.
http://www.ardmediathek.de/tv/Aktuelle-Stunde/Erdogan-schaltet-Twitter-ab/WDR-Fernsehen/Video?documentId=20309014&bcastId=7293524&mpage=page.dossier-20544664
http://info.arte.tv/de/erdogan-schaltet-twitter-ab
http://www.vice.com/de/read/nach-twitter-und-youtube-schaltet-erdogan-sich-jetzt-selber-ab
[aus dem Tagebuch meines Vaters]

25.02.2014

In der Türkei wird das geplante Filtersystem nun eingeführt.
https://www.unwatched.org/EDRigram_9.23_Tuerkei_fuehrt_Internetfilter_ein

2013

Die Diskussionen um Netzneutralität in Deutschland und Europa heizen sich auf.
http://www.heise.de/newsticker/meldung/re-publica-sucht-Ausweg-aus-der-Endlosdebatte-um-die-Netzneutralitaet-1858453.html


Mai 2011

In der Türkei kündigt sich ein Filtersystem an. Nicht gut!
http://derstandard.at/1304551459836/ROG-warnt-Tuerkei-plant-Internet-Filter-Software
http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2011/08/159995/erdogan-gibt-nach-keine-internet-filter/

2010

Mein Vater besuchte ab 2010 regelmäßig Web 2.0 -Konferenzen. Ab 2010 interessiert er sich hierbei insbesondere für Vorträge zur Netzneutralität
http://www.heise.de/newsticker/meldung/re-publica-Netzneutralitaet-als-Schutzwall-gegen-Zensur-978841.html

12.05.2011

Ich, Hildi, werde geboren

4. August 1981

Alvin Lucier macht in seiner Performance „Sferics“ natürliche Radiowellen hörbar.
http://www.alvin-lucier-film.com/sferics.html
Vor ihm machten bereits andere Ingenieure hörbare Experimente mit „nature radio“.
http://www.thewire.co.uk/in-writing/book-extracts/read_introduction-to-douglas-kahn_s-earth-sound-earth-signal

13.01.1978

Geburt meines Vaters

1968

Der Rechtswissenschaftler Michael Haucke veröffentlicht seine Dissertation Piratensender auf See. Eine völkerrechtliche Studie über periphere Rundfunksender an Bord von Schiffen oder auf künslichen Inseln im offenen Meer. 2013 liest mein Vater die Einleitung zu diesem Buch zufällig. Da heißt es: „Im Äther herrscht Raumnot“. Im Kontext der digitalen Brache ist mein Vater motiviert, den analogen Raum zu erobern und schließlich die Radiofrequenzlizenz für Coconut Radio zu pachten. HIER BILD

14.05.1931

Alvin Lucier wird geboren. Ab Mitte der 1960er Jahre experimentiert er in seinen Klanginstallationen mit Sinuswellen.